Flüchtlingskrise: Was von der Euphorie blieb

Im August 2015  öffnete Österreich seine Grenzen. Im KURIER erzählen ehemalige Helfer, wie sie heute über die Ereignisse von damals  denken.   

Plötzlich standen zwei junge Männer aus Schweden am Westbahnhof. Ihr VW-Bus voll mit Spenden. Sie hatten von der Situation in Österreich gehört, ihre Freunde zusammengetrommelt, Spendenpackerl gemacht und in den Bus verladen. Stunden später standen sie am Bahnsteig und fragten die Helfer: „Wir haben eine Woche Urlaub. Was können wir tun?“

An einem anderen Tag erkundigte sich ein älterer Mann, was gebraucht würde. Männerschuhe in Größe 43 war die Antwort. Der Mann verschwand und kam eine Stunde später zurück, der Kofferraum seines Autos war voll mit Schuhen in Größe 43. Weil er selbst keine in der Größe hatte, kaufte er alle verfügbaren in einem Geschäft auf der Mariahilfer Straße und brachte sie zum Bahnhof.

Die letzten August- und ersten Septembertage des Jahres 2015 lieferten Geschichten wie diese. Heuer jährt sich die Grenzöffnung von damals zum dritten Mal. Am Bahnhof Keleti in Budapest hatten Tausende Flüchtlinge campiert, die überforderten Behörden ließen die Menschen schließlich in Züge Richtung Österreich steigen. Und Österreich und Deutschland ließen es zu, dass sie unkontrolliert weitergeleitet wurden.

Die Folgen davon sind heute spürbar: Die Bevölkerung ist beim Thema Migration gespalten. Die Bundesregierung verschärft die Regeln für Asylwerber und Flüchtlinge und tritt auf europäischer Ebene für harten Grenzschutz ein. In Deutschland erstarkt die rechtspopulistische AfD. Rechte und konservative Parteien gewinnen an Zuspruch. In Schweden wird das Thema Migration am kommenden Sonntag die Wahl entscheiden. Damals wie heute hat die EU keine Antworten auf drängende Fragen der Migrationspolitik.

In den ersten Septembertagen 2015 standen diese schwierigen Fragen noch im Hintergrund. Dass es am Ende rund eine Million Menschen sein würden, die den Weg über den Balkan und Österreich machen, war zu diesem Zeitpunkt nicht absehbar. Auch nicht, wie die Menschen in Wien empfangen werden würden.

Spontan halfen Tausende Österreicherinnen und Österreicher, dass angesichts der Überforderung des Staates aus einer schwierigen Situation keine katastrophale wurde. Auf den Wiener Bahnhöfen sammelten Freiwillige Kleidung und Verpflegung. Später auch am Grenzübergang Nickelsdorf und in den Notquartieren. Nachrichten über die Hilfsbereitschaft der österreichischen Zivilbevölkerung gingen um die Welt.

Aber wie stehen die Helfer heute, drei Jahre später, dazu? Hat sich ihre Sicht auf die Ereignisse geändert? Der KURIER hat mit sechs ehemaligen Flüchtlingshelfern gesprochen: mit einer Fotografin, einer Unternehmerin, einer Lehrerin, einem DJ, einer Ärztin und einem Komponisten. Keiner bereut sein Engagement. Aber die Entwicklung der vergangenen Jahre ist auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. Im KURIER erzählen sie in ihren eigenen Worten.

“Ich glaube, man hätte effizienter sein können”

Tina Schön, 37, Fotografin

Zuerst am Hauptbahnhof, dann im Ferry-Dusika-Stadion kümmerte sich Tina Schön tageweise um die abgegebenen Sachspenden, organisierte das Lager und verteilte Essen.

Nachdem ich über die Medien mitbekommen hatte, was an den Bahnhöfen passiert, habe ich mich vollkommen ohnmächtig gefühlt. Ich hatte kein Geld um zu helfen, aber weil ich gerade keinen Job hatte, hatte ich Zeit. Also bin ich einfach hingefahren. Ich fand es am Bahnhof anfangs ein bisschen chaotisch – die vielen Menschen und die starken Gerüche, das kennt man so nicht. Ich musste erst lernen, alles nicht zu nahe an mich heran zu lassen, das Schreckliche auszublenden und einfach zu funktionieren.

Was mein Antrieb ist, herzukommen, das habe ich mich oft gefragt. Wahrscheinlich ist Helfen auch immer ein bisschen egoistisch, man fühlt sich danach einfach besser.

Rückblickend gesehen halte ich es für eine Frechheit, dass von politischer Seite so wenig passiert ist und man sich auf Freiwillige wie mich, und Studenten, die gerade Ferien hatten, verlassen hat. Ich würde wiederkommen und helfen, aber ich würde genau wie damals irgendwann sagen, dass das eigentlich nicht meine Verantwortung ist.

Ich glaube auch, man hätte effizienter sein können. Das hätte aber eine ganz andere Struktur gebraucht, die man fast nur mit Freiwilligen nicht umsetzen kann. So war man auch oft mit der eigenen Hilflosigkeit konfrontiert.

Im Oktober machte sich Tina Schön selbständig und beschloss, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.   

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“Ich würde heute alles genauso machen”

Judith Kowal, 53, Lehrerin

Ende August 2015 erreichte Judith Kowal (53) der Anruf ihrer Tochter Sara: Sie sei auf dem Weg zum Westbahnhof. Judith Kowal ließ die Kaffeehäferl in der Abwasch liegen und begleitete ihre Tochter.

Am Bahnsteig gab es anfangs nur Lebensmittelspenden, es war chaotisch. Dann kam die Caritas und hat gefragt: Könnt’s uns helfen? Das haben wir gemacht. Es waren ja noch Ferien, also war ich täglich viele Stunden dort. Es war erschütternd, die Menschen ankommen zu sehen, das hat wahnsinnig weh getan. Aber dass auch so viele Leute gekommen sind und gesagt haben: ,Wir packen an’ – das war sensationell. Den ganzen September waren wir intensiv da. Für mich war klar, ich bleibe solange ich gebraucht werde. Bis der Bahnhof gesperrt wurde, war ich immer am Dienstag von 16 bis 22 Uhr hier. Danach bin ich ins Notquartier Nordwestbahnhof mitgegangen.

Was wir vergessen, ist, dass wir in einem sicheren Land und in Freiheit leben, dass wir so viele Möglichkeiten haben. Daher ist es ein Stück weit Verpflichtung, anderen zu helfen. Viele trauen es sich nicht laut zu sagen, dass sie geholfen haben – wegen der aktuellen politischen Lage. Meine Tochter sagt, dass viele Angst vor beruflichen Konsequenzen haben.

Aktuell herrscht ein Misstrauen allen gegenüber. Es ist Allgemeinmeinung, dass die, die kommen, das nicht tun, weil in ihren Heimatländern Krieg ist, sondern weil sie bei uns Geld kassieren wollen. Aber es können nicht lauter Studierte aus einem Land kommen, wo seit Ewigkeiten Bürgerkrieg ist. Es waren alle dabei: Einfache Menschen, die keine Arbeit und nichts gelernt haben, Ärzte, und Menschen, die unser Sozialsystem ausnützen wollen. Und das haben wir gewusst.

Jahrelang haben wir die Geschichten über den Bürgerkrieg gelesen. Es ist an uns abgeprallt, weil das alles weit weg war.

Und plötzlich waren sie da. Und dann gibt es nichts anderes, als zu helfen. Ich würde heute alles genauso machen wie damals. Es sind ja Menschen, die kommen.

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“Ich würde es wieder machen. Aber nicht so”

Margit Johannik, 56, Unternehmerin

Johannik hat im September 2015 fast täglich am Hauptbahnhof in einer der improvisierten Küchen mitgearbeitet, hat Spenden verarbeitet, zu Hause gekocht und das Essen zum Bahnhof gebracht.

Zum Hauptbahnhof bin ich damals gegangen, weil ich mir anschauen wollte, was dort los ist, ob wirklich so viele Menschen ankommen. Es war Neugierde. Ich habe dann dort gesehen, dass helfende Hände gefragt waren.

Beim Helfen hat sich die Frage nach dem Warum gar nicht so sehr gestellt. Man ist da und man wird gebraucht und entweder hilft man oder man hilft nicht. Und ich habe halt geholfen. Es war kein Helfersyndrom. Ich musste nicht als Gutmensch dastehen. Man nimmt einfach etwas in die Hand und tut.

Heute nach drei Jahren haben die Flüchtlinge andere Bedürfnisse. Sie wollen auf den Arbeitsmarkt, sie brauchen Deutschkurse und vor allem auch die Motivation, dass sie die Fortbildungsangebote in Anspruch nehmen und auch selber tätig werden. Natürlich stellt man sich Fragen, was das Thema betrifft. Und natürlich diskutieren wir das sowohl innerhalb der Familie als auch unter Freunden oder mit Kunden. Ich heiße nicht alles gut. Aber ich kann nicht akzeptieren, dass Menschen, die hier ihr Leben in die Hand nehmen und dem System nicht zur Last fallen wollen, in den gleichen Topf geworfen werden, wie jene, die einfach abwarten und Zeit absitzen wollen.

Ich würde es wieder machen, mich wieder engagieren. Aber nicht so. Es war sehr schön zu sehen, wie hier Menschen, die sich sonst gar nicht kennen, näher zusammengerückt sind. Aber ich würde mehr Unterstützung vom Staat einfordern. Sehr viel Energie und Power ist verpufft. Irgendwann hatte man das Gefühl, der Staat freut sich darüber, dass seine Ameisen laufen. Als würde man mal abwarten, bis diese Energie verpufft ist, und dann halt schauen, was recht ist und was nicht recht ist.

Johannik hat nach ihrem Engagement im Jahr 2015 die Initiative “Neubauschafft” gegründet, die Flüchtlinge beim Eintritt in den Arbeitsmarkt unterstützt.

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“Es war das Gegenteil der negativen Stimmung von heute”

Robert Buchta, 46, DJ

Als eines Nachts Anfang September 2015 die Ankunft vieler weiterer Züge mit Geflüchteten angekündigt wurde und man am Hauptbahnhof dringend Kleiderspenden benötigte, packte Robert Buchta Kisten und fuhr zum Bahnhof, um zu helfen.

Ich hatte mich damals gerade von meiner Freundin getrennt, war dabei, mir eine neue Wohnung zu suchen und saß mitten in der Nacht vor dem Computer. Auf Facebook las ich, dass man für die Neuankömmlinge dringend Kleidung benötigte. Da habe ich ganz spontan beschlossen, alles zusammen zu packen, was ich nicht mehr brauchte, und zum Bahnhof zu fahren. Obwohl es sehr spät war, waren viele Leute dort, die die Züge bereits erwarteten.

Es waren nicht nur Linke, die zu den Bahnhöfen kamen. Die Bereitschaft zu helfen, war in der ganzen Bevölkerung riesengroß, weil es kurzfristig für alle möglich war, sich in die Geflüchteten hineinzuversetzen. „Refugees are welcome here“ wurde gerufen - das stimmte tatsächlich und das haben die Menschen auch gespürt. Es war das Gegenteil der negativen Stimmung, die ich heute vor allem in den sozialen Netzwerken bemerke. Dass das umgeschlagen ist, hängt mit vielen Faktoren zusammen: mit politischer Feigheit, mit dem Aufbauschen des Themas in einigen Medien, dem konstruierten Feindbild „Migranten“ und auch damit, dass Menschen sehr schnell abstumpfen. Sie haben sich daran gewöhnt, dass Krieg ist in Syrien, das schockiert keinen mehr.

Damals auf den Bahnhof zu kommen und Spenden mitzubringen, war das Einfachste auf der Welt. Ich würde es definitiv immer wieder tun, weil es mich auch persönlich bereichert hat. Die Begegnung mit den Geflüchteten fand ich sehr lehrreich, vieles von dem, was sie gesagt haben, und ihre große Dankbarkeit haben mich überrascht. Außerdem habe ich das gute Gefühl mitgenommen, dass die österreichische Bevölkerung in einer Notsituation bereit ist, sich zusammen zu tun und zu helfen.

Im Winter 2015 erkrankte Robert Buchta an Krebs und konnte nicht mehr aktiv mithelfen. Heute versucht er vor allem bei Diskussionen auf Facebook gegen Fremdenhass und Rassismus zu argumentieren.

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„Ich habe zum Helfen einen pragmatischen Zugang“

Marianne Koch, 31, Ärztin

Koch kam zum Hauptbahnhof, um Menschen medizinisch zu versorgen. Sie verpflegte dort kleinere Wunden und gab Medikamente aus.

Ich bin mit einer Freundin zum Hauptbahnhof gefahren, die auch Gynäkologin ist. Jeder hat dort einfach gemacht was angefallen ist ohne viel Bürokratie. Niemand hat gefragt, ob ich tatsächlich Ärztin bin. (lacht) Das allermeiste waren an diesem Abend kleinere Wundversorgungen durch die langen Märsche und Verkühlungen bei Kindern.

Es waren insgesamt eher mehr pflegerische Tätigkeiten gefragt. Menschen mit ernsteren medizinischen Problemen wurden, soweit ich es mitbekommen habe, in Krankenhäuser verwiesen. Ich hab mir das angeschaut an diesem Abend und gemerkt, ich kann da als Gynäkologin nicht so wahnsinnig viel beitragen. Das war dann auch der Grund, warum ich später nicht mehr hingegangen bin. Mein pragmatischer Zugang war dann, involvierte gemeinnützige Organisationen eben finanziell zu unterstützen.

Ich denke, Menschen in Akutsituationen muss in jedem Fall geholfen werden. In meinem Bekanntenkreis habe ich auch den Eindruck, dass diese Einstellung geteilt wird. Was sicher neu war damals, war diese direkte Konfrontation mit vielen Menschen, die akut in Not sind, quasi vor unserer Haustüre. Es hat mich beeindruckt, dass sich da so viele Leute aktiv und spontan eingebracht haben. Ich finde das logisch und menschlich.

Später habe ich im Rahmen meiner Ausbildung sechs Monate als Geburtshelferin in Tunesien gearbeitet. Da habe ich auch gemerkt, dass es nicht einfach ist, sich abrupt in einer fremden Kultur und Sprache zurechtzufinden. Als Gynäkologin hat mich das Thema Frauen auf der Flucht sehr beschäftigt. Sie sind oft sexuellen Übergriffen ausgeliefert und auf langen Wegen schon rein körperlich im Nachteil. Meiner Meinung nach sollte Frauen und Kindern in Akutsituationen ein besonderes Schutzrecht zugesprochen werden.

Der Immigration von jungen Männern mit niedrigem Bildungsstand aus sehr patriarchal geprägten Kulturen stehe ich skeptisch gegenüber. Während meiner Zeit in Tunesien bin ich öfters dem Klischee begegnet, dass europäische Frauen „sexuell freizügig“ sind. Im Sinne von: ‚Europäische Frauen schlafen eh mit jedem.‘ Natürlich darf man das nicht pauschalisieren, aber hier sehe ich eher explosiven Charakter. Das ist meine persönliche Meinung.

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“In den Monaten davor hat man vieles verabsäumt”

Lukas Haselböck, 46, Musikwissenschafter und Komponist

Haselböck half am Hauptbahnhof beim Sortieren von Spenden und beim Reinigen. In seinem Wohnort Tullnerbach unterstützte er eine Familie aus Syrien.

Ich bin im September einige Male am Hauptbahnhof gewesen. Ich muss sagen: nicht sehr oft. Meine berufliche Situation hat es nicht erlaubt, mehrmals pro Woche hinzufahren, ich habe mich aber in meinem Wohnort intensiv engagiert. Mein persönliches Gefühl war, dass ich etwas weitergeben wollte. Ich hatte doch einiges Glück im Leben und bin in einem Land aufgewachsen in dem Frieden herrscht. Ich empfinde es als eine Selbstverständlichkeit da zu helfen.

Drei Jahre später betrachte ich die Situation mit Schmerz, muss ich sagen. Gerade wenn ich den Umgang der Politik mit diesem Thema betrachte. Da wird das Negative überbetont, man spricht darüber, dass Flüchtlinge unberechtigt Leistungen kassieren oder straffällig werden, und man erwähnt kaum noch, dass die Integration oft gut funktioniert. Diese Manipulation der öffentlichen Meinung halte ich für sehr gefährlich.

Natürlich besteht auch ein gewisses Problem darin, dass die Leute hauptsächlich unter sich bleiben, Syrer sich wieder mit Syrern treffen. Aber wenn wir ihnen signalisieren, dass wir sie nicht wollen, dann wird das noch viel weniger funktionieren. Ich habe erlebt, dass es ganz entscheidend ist, auf diese Menschen zuzugehen, Freundschaften mit ihnen zu schließen. Das ändert alles.

Man kann über die Öffnung der Grenzen diskutieren. Ich denke, die EU hätte im Vorfeld mehr Maßnahmen ergreifen müssen. Man hat die Dinge herankommen lassen. Und plötzlich war die Situation da, dass Tausende durch Ungarn marschiert sind. Natürlich hat Merkel richtig reagiert, was hätte man mit den Menschen denn sonst machen sollen? Aber in den Monaten und Jahren davor hat man vieles verabsäumt – das wird ja heute niemand leugnen, der vernünftig ist. Das leugnet auch Merkel nicht.

Aber daraus den Schluss zu ziehen, dass man die Grenzen um jeden Preis dichtmachen muss, ist eine reflexartige Reaktion, die niemandem nützt. Da schaden wir unserer Wirtschaft, da schaden wir uns selbst.

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Text und Dokumentation
Moritz Gottsauner-Wolf, Elisabeth Hofer, Lukas Kapeller, Julia Schrenk

Fotografie
Gilbert Novy, Jeff Mangione

Flüchtlingskrise: Was von der Euphorie blieb
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